Mädchen laufen stärker Gefahr als Jungs, Opfer von Gewalt zu werden – vor allen Dingen sexueller Gewalt. Vom Anfassen in der S-Bahn bis zu den KO-Tropfen im Drink erleben immer wieder Mädchen und Frauen Grenzüberschreitungen, die ihnen Schaden zufügen. Die Frage, wie Mädchen sich schützen sollen, ist wichtig und unbedingt angebracht. Die Antworten sind es aber nicht immer. Und auch diese Frage alleine führt zu keiner vernünftigen Lösung.
Denn neben der Frage, wie man Töchter davor schützen kann, zu Opfern zu werden, stellt sich die Frage, wie man verhindert, dass Söhne zu Tätern werden. Wäre diese Frage geklärt, bräuchte keine Frau nachts ein Taxi zu rufen, anstatt bei milden Temperaturen gemütlich einen Kilometer zu Fuß nach Hause zu laufen.
Ja, ich bin dafür, dass Mädchen lernen, wie sie sich selbst verteidigen können. Jedes Mädchen sollte das gelernt haben, um sich bei einem Angriff zu schützen. Wir wissen, dass schon Schreien viele potentielle Angreifer in die Flucht schlägt, und wenn eine Frau sich körperlich gezielt zur Wehr setzt, sind die Chancen hoch, dass sie davonlaufen kann oder gar der Täter flieht. Gegen KO-Tropfen hilft das aber nicht.
Wie sind diese Söhne, die zu Tätern werden und Frauen als etwas sehen, das man sich nehmen kann? In der Regel haben sie gelernt: Männer begehren, Frauen werden genommen. Zum Beispiel im Bordell gegen Geld. Das Frauen als das käufliche Geschlecht gesehen werden, hat sie automatische Nebenwirkung, dass Sex als etwas gesehen wird, das der Mann will und die Frau gibt. Gegen Geld, aber warum nicht auch kostenlos? Es macht ihr ja nichts aus. Nur der Preis variiert. Gleichzeitig sind es häufig Männer, die gelernt haben, dass Männer wichtiger sind als Frauen, dass Frauen dienen und Männer entscheiden. Da räumt die Schwester zuhause den Tisch ab, nachdem der Bruder gegessen hat. Da schickt der Vater die Mutter zum Kochen, während er fern sieht. Das alles signalisiert Jungs: Mädchen und Frauen sind dazu da, uns das Leben schön zu machen. Das ist normal. Das ist ihre Pflicht. Eine Frau, die das nicht tut, ist keine gute Frau. Und so weiter.
Deshalb fängt Gleichberechtigung und Gleichbehandlung nicht bei gleichen Löhnen für Männer und Frauen an. Sie muss in die Familien Einzug halten. Väter müssen ihren Töchtern zeigen, wie sie ihr Leben selbstständig leben können, ohne von einem Ehemann abhängig zu sein. Sie müssen Jungs wie Mädchen motivieren, eine gute Ausbildung zu machen. Eltern müssen Jungs wie Mädchen im Haushalt beteiligen, aber auch bei Aktivitäten, die sonst vielleicht eher Jungs machen würden. Warum sollte ein Mädchen nicht lernen, ein Fahrrad zu reparieren oder Holz zu hacken? Solange wir Rollen weiterhin so trennen, müssen wir uns nicht wundern, wenn sich das auch in Bereichen niederschlägt, in denen wir das gar nicht wollen.
Männer und Frauen seien genetisch unterschiedlich? Hätten verschiedene Gehirne und seien deshalb „von Natur aus“ zu anderen Lebensmodellen geboren? Männer hätten wegen des Testosterons mehr Druck und bräuchten mehr Sex, deshalb bräuchte es halt Frauen, die ihnen zu Diensten sind? Klingt stimmig und wird immer wieder zitiert, das ist gerade der Mainstream. Einer schreibt es vom anderen ab, aber es gibt keine einzige Studie, die es wirklich belegt. Es gibt Hinweise, dass sich die Gehirne unterscheiden, dass Testosteron aggressiv macht – aber nur dann, wenn ein Mann keine Konsequenzen zu befürchten hat, weil er zum Beispiel der Boss ist. Ist er nur der Zweite, kann er trotz hoher Testosteron-Werte sehr sozial sein und sich dabei sehr wohl fühlen. Was also den Ausschlag gibt, ist der soziale Kontext – und den bestimmen wir. Nicht, indem wir unseren Töchtern noch größere Vorsicht einimpfen, sondern indem wir unsere Söhne zu empathischen und rücksichtsvollen Menschen erziehen, die andere Menschen respektieren – egal, ob diese männliche oder weiblich sind.