Immer wieder arbeite ich mit Menschen, die unter einem Abschied leiden. Sie haben sich getrennt oder wurden verlassen, jemand ist gestorben, die Kinder sind aus dem Haus und rufen nur ganz selten an. Eine Freundin meldet sich nicht mehr, die Ex möchte den Kontakt abbrechen, anstatt eine gute Freundin zu werden. Nicht selten entsteht aus dem Festhalten-Wollen oder Nicht-Wahrhaben-Wollen tiefes und langanhaltendes seelisches Leiden.
Ist das nicht eigentlich absurd? Kürzlich sprach ich mit einer alten Frau. Sie zeigte mir ein Klassenfoto. Aus einer Klasse von 30 Kindern war sie die einzige, die noch lebte. Alle anderen waren bereits tot, manche schon früh, einige bereits im Krieg, viele später, auch als alte Menschen. Der Kreis war über die Jahre immer kleiner geworden. Auch ihre beiden Schwestern waren bereits tot, eine durch eine Krankheit, die andere in hohem Alter. Sie hatte einen Sohn, der im Ausland lebte und an Weihnachten mit Frau und Enkeln zu ihr kam.
Ihr Mann hatte sich mit Mitte 50 das Leben genommen. Sie hatte noch eine späte Beziehung, aber der zweite Partner hatte sie nach ein paar Jahren verlassen für seine inzwischen verwitwete Jugendliebe.
Was für ein schrecklich einsames Leben, könnte man sagen. Wie kann man so viele Verluste verkraften?
Aber diese Frau, die mir gegenüber saß, war keineswegs verbittert oder traurig. Voller Dankbarkeit sprach sie über diese Menschen, denen sie in ihrem Leben nah gewesen war. Sie hatte beide Männer geliebt, sie hatte ihre Schwestern geliebt, sie hatte in ihrer Kindheit gute Freunde gehabt und auch später. Und sie war keineswegs einsam. Sie traf andere Menschen in der Gymnastik, war umweltpolitisch engagiert und traf sich dort mit Menschen allen Alters. Wenn sie zum Essen einlud, kamen junge Leute und Freunde, die sie schon ein paar Jahre hatte. Wenn sie krank war, konnte sie anrufen, und jemand kümmerte sich. Wenn sie Hilfe brauchte, bat sie jemanden darum. Selbst, wenn sie ihn noch nicht gut kannte. Sie selbst half ebenfalls wo sie konnte. Sie hatte sich immer wieder neu geöffnet, immer wieder neu eingelassen, immer wieder neu vertraut, immer wieder neu geliebt. Was für ein wundervolles Vorbild diese Frau ist!
Und was wir von ihr lernen? Das einzige, was sicher ist im Leben, ist, dass wir alle Menschen, die wir lieben, eines Tages verlieren werden. Weil sie uns verlassen, weil sie vor uns sterben, oder weil wir sterben. Ist es also wirklich sinnvoll, alle Energie aufs Festhalten zu verwenden?