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Machen wir Gefängnispsychologie?

Ich erhalte in den letzten Wochen immer wieder Presseanfragen, in denen es heißt: Wie schaffen wir es, gelassen und geduldig durch den Lockdown zu kommen? 

Das klingt nach einer sinnvollen Frage – nur: Ist sie das wirklich? Geht es denn darum?

Die aktuelle Situation ist für viele Menschen massiv belastend. In meiner Praxis merke ich, dass die Menschen mürber werden, Einsamkeit nicht mehr aushalten und vor allem die fehlende Perspektive. Auch den Entzug ihrer persönlichen Freiheit können manche nicht mehr akzeptieren, oder die Tatsache, dass ihr altes Großmütterchen im Heim nicht selbst entscheiden darf, wen sie wann empfängt und wen sie besucht, ohne eine Quarantäne zu riskieren, die sie nicht mehr ertragen kann. 

Langsam beschleicht mich das Gefühl, dass auch in der Psychologie etwas falsch läuft. Auch wir Psychologen sind ja vor blinden Flecken nicht geschützt und neigen dazu zu verdrängen, was nicht sein darf. 

Die Frage: „Wie kommen wir gelassen durch den Lockdown?“ klingt immer mehr wie: „Wie komme ich gelassen durch die Folter?“.

Isolation gehört schon lange zu den gängigen und härtesten Methoden der Folter und wird immer dort angewandt wird, wo Menschen weichgekocht und gebrochen werden sollen. Genau das wird uns im Moment kollektiv angetan – nicht, weil wir ein Verbrechen begangen hätten, sondern als angebliche Notwendigkeit, um andere Menschen zu retten.

Die Folgen von Isolation und Einsamkeit sind identisch mit den Folgen von Gewalt: Wer isoliert ist, entwickelt ähnliche psychische Verletzungen wie Menschen, die Gewalt erleben, körperlich, sexuell oder psychisch – bis hin zu posttraumatischen Beschwerden wie Panik, Alpträumen oder Schlafstörungen, Suchtdruck oder schweren Depressionen und Todessehnsucht.

Das Leben im Lockdown ist artfremd, es widerspricht grundlegenden menschlichen Bedürfnissen. Menschen, die spüren und sagen, dass sie das nicht mehr aushalten, sind nicht unsolidarisch – sie sind einfach gesund und spüren, dass das über längere Zeit nicht geht. Sie sprechen eine Wahrheit aus, die wir alle spüren – wenn wir uns noch spüren. 

Menschen brauchen, um gesund zu sein, auch menschliche Wärme, Körperkontakt und Nähe, Solidarität, und sie brauchen, um sich sicher zu fühlen und sich nicht zu fürchten, echte Menschen mit echten Gesichtern, die sie freundlich anschauen, mit ihnen sprechen und mit ihnen lachen. Das sind zentrale und Voraussetzungen für seelische Gesundheit, die man durch nichts ersetzen kann. Wenn sie uns weggenommen werden, werden wir krank. 

Die Frage darf also nicht sein: Wie halten wir das noch länger aus. Sondern eher: Ist dieser Zustand, den wir aushalten sollen (obwohl er uns so massiv schaden kann), wirklich notwendig? Ist er angemessen? Ist er wirklich so unausweichlich, oder gibt es vielleicht gesündere Alternativen? Wäre es nicht vielleicht besser zu schauen, wie wir diesen Zustand ändern können, bevor noch mehr Menschen an ihrer Seele Schaden nehmen können?

Die Techniker Krankenkasse hat schon im Sommer 2020 einen Anstieg der psychischen Erkrankungen um 30% gemeldet – so viele wie noch nie zuvor. Und das war in einer Zeit, als von einem zweiten Unendlich-Lockdown noch keine Rede war! Ein Kriminalkommissar sagte mir kürzlich, die Zahl der Suizide sei stark angestiegen – nach seiner Einschätzung um das Drei- bis Vierfache. Offizielle Zahlen gibt es noch nicht. 

Deshalb frage ich mich und dich: Was können wir ganz konkret tun, um unsere Lebensbedingungen jetzt so zu verändern, dass sie menschlicher sind? Was brauchen wir, um uns wohlzufühlen und wieder menschlich? Wen können wir heute umarmen, treffen oder mindestens anrufen? Mit wem können wir uns verabreden, zusammen spazierengehen und so weiter? Und wo müssen wir/ich auch Position beziehen, um andere Menschen zu ermutigen, wieder auf ihre innere Stimme, auf ihre Bedürfnisse zu hören?

Wenn wir in Not sind, hilft Handeln. Es braucht nicht viel zu sein, es muss nicht spektakulär sein (aber auch das ist möglich). Ich kann mich fragen, wem ich konkret helfen kann, wen ich treffen kann, und was ich tun kann, damit sich die Not auflöst. Und wie ich andere ermutigen kann, ebenfalls gut auf sich und auf andere zu achten.

Eine Krisenstrategie, die isoliert und bei Nicht-Erfolg mit noch mehr Isolation reagiert, ist gefährlich und hat offenbar jedes Maß für die Gesundheit der Menschen verloren. Deshalb sage ich als Psychologin: Schluss mit dieser unseligen und krankmachenden Strategie. Sucht andere Lösungen für die Krisenbewältigung, hört andere Experten und lernt von den Ländern, die bereits erfolgreich waren. Und jedem einzelnen Menschen: Höre auf deine innere Stimme, sorge gut für dich und sorge gut für andere. Sei mutig und klar.

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2 Kommentare zu „Machen wir Gefängnispsychologie?“

  1. Liebe Anke,
    du sprichst mir aus der Seele.
    Ich erlebe die Folgen der Isolation ganz nah in der eigenen Familie. Mein 13-jähriger! Neffe, der seit Monaten Homeschooling hat, ist zutiefst deprimiert. Er kann sich nicht mehr mit seinen besten Freunden treffen, auch nicht einzeln, weil deren Eltern es aus lauter Angst vor Corona verbieten. Sein Bewegungsfeld hat sich enorm minimiert und er leidet sehr darunter. Das macht sich auch körperlich bemerkbar, da er aus Frust zu mehr Süßigkeiten greift. Zudem ist er durch diese aktuelle Situation aus dem „Schulsystem“ gefallen, nicht der Einzige in seiner Klasse, das die Folgen hat, dass die Lehrer dieser Klasse hingehen und allen Eltern eine Wiederholung der Schulklasse anbieten. Das ist nur ein kleines Beispiel, was dieser wochenlange Lockdown anrichtet.

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